Die Jungfrau, die ein Löwe war

Insekten

Hört man von Löwe und Jungfrau im gleichen Atemzug, so denkt man an Sternbilder. Denn außerhalb der Astronomie sind beide doch recht verschieden. Aber es gibt ein Insekt, das beide Namen trägt: Ameisenlöwe und Ameisenjungfer. Der eine Name gilt für das Larvenstadium, der andere für das ausgewachsene, geflügelte Tier.

Ameisenlöwe

Ameisenlöwe, Ameisenjungfer - in den beiden Namen spiegelt sich die ungewöhnliche Verschiedenheit zwischen Larve und geschlüpftem Tier. Gewiß ist auch der Engerling dem Maikäfer, die Raupe dem Schmetterling so unähnlich, dass man die wundersame Verwandlung immer wieder bestaunen muß. Aber daran hat man sich schon gewöhnt. Nicht so bei Myrmeleon, wie das Doppel-Geschöpf wissenschaftlich heißt.

Nur dort, wo der Boden aus feinem, lockerem Sand besteht und möglichst noch ein überstehender Hang von oben vor Regen Schutz bietet, hat man Aussicht, kreisrunde, regelmäßige Trichter zu finden, die einen Durchmesser bis zu acht Zentimeter erreichen und fünf Zentimeter tief sein können. Trotz des feinen Sandes sind die Hänge steil, erstaunlich glatt und ebenmäßig. Nichts verrät das Vorhandensein von etwas Lebendigem, eher denkt man an eine Mondlandschaft mit Kratern im Kleinen. Hat man solch eine Stelle gefunden, dann lohnt es sich, zu verharren und zu beobachten, was hier vor sich geht.

Schon zehn Minuten sitze ich an einem Trichter, ohne dass sich das Geringste tut. Da kommt eine Ameise eilig durch den Sand gelaufen. Dem einen Trichter bleibt sie noch gut einen Zentimeter fern, und es geschieht nichts. Als sie jetzt aber unmittelbar am Rande des nächsten entlangläuft, da schießt vom tiefsten Punkt des Trichters - wie das zerkleinerte Stroh aus dem Gebläse einer Häckselmaschine - ein Sandstrahl hoch.

Die Körner prasseln auf die Ameise und um sie herum nieder; sie kommt ins Rutschen. An dem glatten Hang der Grube gibt es keinen Halt, sie rutscht hinab zur tiefsten Stelle. Dort schauen jetzt zwei lange, spitze, säbelförmige Zangen aus dem Sand und packen blitzschnell zu. Ihre Spitzen schlagen in den Körper des Opfers, das noch ein paarmal heftig zuckt und dann leblos in den Fängen des unsichtbaren Ameisenlöwen hängt. Er hat zugeschlagen.

Ameisenlöwe

Jetzt vergeht wieder eine Zeit, in der so gut wie nichts passiert. Jedenfalls sieht man nichts - nur die tote Ameise am Trichtergrund und die in sie eingeschlagenen Zangen des Räubers, der darunter im Sand stecken muß. Wären die Zangen durchsichtig und hätte man die Körpersäfte des Räubers zuvor rot, die des Opfers blau gefärbt, dann würde man erkennen, was geschieht. Man würde zuerst sehen, dass rotes Gift durch die Zangen in das Opfer injiziert wird. Nach einiger Zeit würde man dann in umgekehrter Richtung den blauen Strom durch die Zangen in den Räuber fließen sehen. Er saugt die Beute aus. Wenn von ihr nur noch die leere, unverdauliche Körperhülle übrig ist, dann schleudern die Zangen sie mit einer heftigen, ruckartigen Bewegung über den Rand des Trichters hinweg fort.

Mit der gleichen Bewegung hat der Wegelagerer auch den Sand geschleudert - es sah nur aus wie ein Gebläse.