Tötungshemmung verhindert das Zubeißen

Zwar ist ein wilder Wolf ein Ausbund an Kraft und Ausdauer, sein Gebiß ist enorm scharf.

Nach Müller-Using entwickelt es einen Druck von über fünfzehn Kilogramm auf den Quadratzentimeter und kann das Schenkelbein eines erwachsenen, zehn Zentner schweren Elches durchbeißen. Doch macht dieses Raubtier von seinen Zähnen nur beim Nahrungserwerb Gebrauch. Im Umgang mit seinen Rudelgenossen, in der Ranzzeit und beim Aufziehen der Jungen ist der Wolf ausgesprochen freundlich, liebenswürdig und aufopfernd. Er ist ein soziales Tier, das für seine Rudelgenossen arbeitet; nie käme ein Rudelwolf auf die Idee, seine Mitjäger von einer von ihm gerissenen Beute wegzubeißen. Auch als Vater ist der Wolf vorbildlich und trägt den Jungen Nahrung zu. Bei den nervenaufreibenden Spielen der Jungwölfe zeigen der alte Rüde wie die Wölfin eine Engelsgeduld. Im übrigen ist das Rudel keineswegs nur eine Gemeinschaft zum Hetzen und Schlagen von Beute. Sie ist weit feiner organisiert und kennt beispielsweise (ähnlich wie bei den Pinguinen) den Begriff der "Tante", einer noch jungen Wölfin, die die Jungenbetreuung übernimmt, wenn die Mutter wieder mit dem Rudel auf Beute auszieht. Die soziale Ordnung im Wolfsrudel verhindert auch eine Überproduktion an Jungtieren (die kaum alle versorgt werden könnten). Nur die in der Rangordnung hoch rangierenden Tiere dürfen sich begatten; sie verhindern, dass dies rangtiefe Genossen gleichfalls tun.

Der Verhaltensforscher Konrad Lorenz, der den Begriff der "angebotenen Tötungshemmung" bei den Hundeartigen (Caniden) in das Verhaltensvokabular eingeführt hat, beschreibt den Kampf zweier Wolfsrüden. Die beiden umkreisten sich auf engem Zirkel und ließen immer wieder die furchtbaren Brechscheren ihrer Gebisse aufblitzen. Doch stets traf das Schnappen des einen Wolfes nur auf die Zähne des Rivalen, die den Biß parierten. Erst als bei dem schwächeren Tier die Ausdauer erlahmte, bot er dem Sieger die verwundbarsten Stellen seines Körpers dar (viele Caniden werfen sich in dieser Situation auf den Rücken und zeigen die ungeschützte Kehle), so seine "Demut" bezeigend. Der Sieger knurrte, klappte mit dem Gebiß in der Luft - konnte aber einfach nicht zubeißen, daran hindert ihn eine angebotene Hemmung.

Der Unterlegene kann sich dann zurückziehen, der Sieger markiert den Kampfplatz mit seiner Urinduftmarke.

Und noch etwas tut er: Er stolziert mit hoch erhobenem Schwanz von dannen. Er ist jetzt in der Rangordnung aufgestiegen und wird erst dann den Schwanz wieder zwischen die Beine klemmen, wenn ihn der Rudelchef (ein Rüde oder eine Wölfin), der stets mit hocherhobenem Schwanz einhergeht, androht. Dann allerdings kuscht er.

Wölfe leben heute noch in relativ großen Beständen in der GUS, in Alaska und in Kanada. Einzelne Rudel finden sich auch in den skandinavischen Ländern, größere Scharen in Osteuropa, einzelne Tiere auch in spanischen Bergländern. Die Wölfe in den USA werden zunehmend seltener und weichen der Besiedlung und Zivilisation.

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