Fadenfabrik, Leimwerk und Verdauungsorgane

Um das Porträt der Kreuzspinne zu zeichnen, muß ich eine Lupe nehmen.

Spinnen
Kreuzspinne

Zwar hat schon Picasso Gesichter gemalt, bei denen die Augen überall sitzen, nur nicht da, wo sie hingehören, doch ist ein Spinnengeschau für den Laien durchaus eine Überraschung. In der Mitte stehen vier größere Augen in einem unregelmäßigen Viereck. Weitere zwei Augenpaare finden sich an den Seiten, wo beim Menschen die Schläfen sind. Das sieht alles nach erstaunlicher Sehspezialisierung aus. Man sollte annehmen, dass Kreuzspinnen ein Ausbund an Scharfsichtigkeit seien. Doch dies stimmt nicht. Im Gegensatz etwa zu den Wolfsspinnen, die ihre Beute in Bodenjagd fangen müssen, sieht Aranea wohl nur Dinge, die sich in ihrem Netz bewegen.

Der dicke Hinterleib unserer Webespinne ist nur wenig ansprechend geformt. Eigentlich ist er lediglich ein eiförmiger Sack, der eine Fadenfabrik, ein Leimwerk und natürlich auch die Verdauungsorgane mühsam umspannt. Selbst das berühmte Kreuzmuster der Aranea ist keine echte Zeichnung: Durch die dünne Hinterleibshaut schimmern die mit weißem Guanini gefüllten Mitteldarm Blindsäcke hindurch und geben so die Farbe für das stark in der Form variierende Kreuzmuster. Sehr prosaisch, dieses Kreuz!

Doch brauchen ja Künstler nicht schön zu sein; ihre Werke sollen sprechen. Und die Webkunst der Aranea, die ihr angeboren ist, hat nicht ihresgleichen. Zwar verhindert die lakonische Bezeichnung "Instinkt" beim Menschen das Staunen, doch kommen wir um eben dieses Staunen bei den Radnetzspinnen nicht herum. Keine Kreuzspinne muß das Kunstweben erlernen wie etwa ein junger Dompfaff das Singen. Schon die winzigen, gerade dem Ei entschlüpften Spinnchen weben klitzekleine, aber vollkommene Netzchen, ohne je das Kunstwerk ihrer Mutter gesehen zu haben.

Das Radnetz der Kreuzspinne - im glänzenden Morgenlicht ein beliebtes Motiv aller Naturfotografen - hat zwei Bestandteile. Einen, der viel Arbeit erfordert, und den zweiten, der täglich erneuert wird. Der anstrengende Teil ist der Aufbau des tragenden, aus kräftigen Fäden bestehenden Netzgerüsts, der andere Teil ist das meist in der Nacht ausgeführte Hineinsetzen einer selbstklebenden Kreiselspirale. Wenn man einmal einer netzbauenden Kreuzspinne zusieht, muß man sagen, dass mit dem "Instinkt" allein der Vorgang nicht zu erklären ist. Zwar ist das Prinzip und wohl auch die Vorstellung vom Radmuster angeboren, doch muß die Baumeisterin in jedem Fall die Gegebenheiten des Geländes beachten. Das Baugerüst folgt auch keinem festen Schema. Es kann ein Dreieck sein, aber oft ist ein Quadrat nötig oder ein Trapez. Vor allem muß es statisch stimmen, was die Spinne in jedem Fall von neuem beurteilen muß.