Der Sinn für das Krankhafte ist geschwunden

Der Sinn für die Schönheit einer Landschaft könnte einen segensreichen Einfluss auf das Verhalten des Menschen zur umgebenden Natur ausüben. Ich glaube, dass eine Erziehung der Menschen zur Wahrnehmung höherer Harmonien, die schon in frühester Jugend einsetzt, ganz wesentlich zur Entfaltung eines segenbringenden Sinnes für das Schöne und das Gute beitragen könnte, und eben dieser Sinn ist es, der uns heute so sehr fehlt. Ethik und Ästhetik fehlen der heutigen Zivilisation in beängstigender Weise, und dieser Mangel wirkt sich in kultureller Hinsicht ganz genauso vernichtend aus wie in bezug auf das Verhalten des Menschen zu der lebenden Natur, in der und von der er lebt. Vor allem aber schwindet damit auch der Sinn für Verfallserscheinungen aller Art, mögen sie nun Künstlerisches, Ethisches oder sogar die Gesundheit des Menschen betreffen. Der Sinn für das Krankhafte ist bei vielen Menschen völlig geschwunden, es gibt erschreckend viele junge und sonst recht intelligente Leute, die völlig unfähig sind, zu sehen, dass ein rauschgiftsüchtiger Mensch ein bedauernswerter Krüppel ist.

Es ist schwer, angesichts der unzähligen Symptome des kulturellen und ethischen Verfalls und der eng damit zusammenhängenden Vernichtung der Natur nicht völlig an der Zukunft der Menschheit zu verzweifeln. Dennoch bin ich Optimist. Die Maßnahmen, die man zur Rettung der Menschheit ergreifen kann, betreffen - wie schon gesagt - ausschließlich die Erziehung. In erster Linie muss die Empfänglichkeit des Menschen für Harmonie aller Art durch Erziehung gefördert werden. Es ist eine alte Erfahrung der Pädagogen, dass musikalische junge Leute gegen die heute grassierende Geisteskrankheit der totalen Wertblindheit gefeit sind. In der österreichischen Naturschutzjugend wird in geradezu großartiger Weise die Schulung zum Naturverständnis und zum Musikverständnis gleichzeitig gefördert.

Kinder sollten Tiere halten

Der Biologieunterricht müsste auf allen Schulstufen um sehr viel ernster genommen werden, als es heute der Fall ist. Die Kinder müssten ermutigt werden, Tiere zu halten. Ein Junge, der mit Erfolg Kanarienvögel züchtet und einen gesunden von einem kranken Vogel unterscheiden kann, hat Unschätzbares gelernt. Das Aquarium, dieses lehrreiche Modell einer Lebensgemeinschaft, ist geeignet, jedem intelligenten Kind beizubringen, was eine natürliche Harmonie ist. Es wird eine globale Erziehungsaufgabe sein, die Menschen so zu erziehen, dass sie wieder die große Harmonie empfinden, die das Weltall durchdringt.

Professor Dr. Konrad Lorenz
Professor Dr. Konrad Lorenz