Der pfarreische Ganter

Gans Bertha war in Wirklichkeit ein Ganter. Wie das bei Gänsen so ist, sah man ihr das nicht an. Aber sie schien es zu wissen, denn sie benahm sich durchaus männlich, indem sie die Mägde, insbesondere die Rosa, in die nackten Waden kniff - zärtlich, versteht sich!

Sie war von der graubraunen Sorte, wie eine Wildgans gezeichnet. Sicher hatte mal ein Grauganter, der mit dem großen Schwarm von Norden kam und am Wirbelsee nächtigte, eines der unschuldig weißen Gänschen vom Pfarrhof verführt. Jedenfalls pulste in Bertha das wilde Blut der Vorfahren; sie liebte das Abenteuer und den Kampf. Wenn sie bei ihren Erkundungsgängen - wild flügelschlagend, mit vorgestrecktem Hals und grell trompetend - die Dorfgasse entlangbrauste, flüchteten Frauen und Kinder in die Höfe mit dem Schreckensruf: "Der pfarreische Ganter!"

Bertha meinte es nicht wirklich bös, konnte aber doch ganz schön kneifen. Auf den friedlich vor seiner Hütte dösenden Hofhund gelangen ihr immer wieder Überraschungsangriffe, wobei sie ihn derb in den Schwanz zwickte. Lorbaß zog sich beleidigt zurück. Er wußte: er durfte Bertha nicht an den Kragen.

Bertha überlebte jedes Jahr die für ostpreußische Gänse so gefährlichen Monate Oktober bis Dezember. In dieser Zeit duftete es überall nach Schwarzsauer, der deftigen Suppe aus Gänseblut, Backobst und Klößen. In der Pfarrei wurden an die 20 Gänse gestopft. Aus ihren gelben, fetten Lebern fabrizierte Tante Lieschen, die Haushälterin, ihre beliebte Leberpastete. 20 dralle Gänsebrüste wanderten in den Rauch, alles andere ins Salzfaß, denn Wrukken (Steckrüben) mit gepökelten Gänseschenkeln wurden nicht nur in der Leutestube gern gegessen. Alle geistlichen Herren der Nachbardörfer kamen am 11. November zum traditionellen Gänseessen ins Pfarrhaus. Doch an Bertha zog St. Martin vorüber.

Man wird es schon gemerkt haben, Bertha war keine gewöhnliche Gans. Das hatte seinen Grund. Als junges Gössel hatte Bertha sich bös am Fuß verletzt, die Sehne am Mittelzeh zerschnitten, die Schwimmhäute daneben zerrissen. Der damals noch ganz jungen Rosa tat das piepsende Geschöpf leid. Mit einer Stopfnadel zog sie die Wundränder zusammen.

Die Wunden heilten, der Fuß blieb verkrüppelt. Rosa hatte das kranke Tier in einem Körbchen mit sich herumgeschleppt, mit gehacktem Ei und Quetschkartoffeln verwöhnt. Als Bertha gesund war, humpelte sie auf Schritt und Tritt hinter Rosa her. Ihre eigenen Artgenossen interessierten sie nur während einer kurzen Sturm- und Drangzeit. Je älter Bertha wurde, desto mehr sonderte sie sich von ihnen ab. Sonst veränderte sich ihr Wesen nicht. Mit 20 war sie noch genauso hübsch, neugierig und keck wie in ihren jungen Jahren.

Als sie älter wurde, suchte sie nicht mehr den warmen Pferdestall auf. Sommer wie Winter schlief sie unter dem Brennholzstapel im hinteren Hof. Am Morgen erschien sie vor dem Kücheneingang und wartete geduckt, bis Rosa kam, um Anfeuerholz für den Herd zu holen. Dann erhob sich Bertha, wackelte vergnügt mit dem Hinterteil, ließ schnell etwas fallen, stieß ein sanftes Knättern aus und kniepte übermütig in Rosas Bein. Das war jahrelang das allmorgendliche Ritual. Bis 1944. Da marschierten die Russen ein. Rosa flüchtete und konnte uns später berichten, dass Bertha doch noch das Schicksal aller Gänse ereilt hat: Sie landete, 28 Jahre alt, in einem russischen Kochtopf.

Mit dem ihr eigenen Humor schloß Rosa die wehmütige Geschichte von Berthas Ende: "Das Viehche war ja all nich mehr so ganz grottig (zart)."

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