Wer ihr Vertrauen gewinnt, kann sie streicheln

Die ständige Ausrottung immer neuer Gänsegenerationen durch hungrige Leute bewirkt natürlich, dass nur allzu selten eine Gans jenen Grad an Weisheit erlangen kann, den auch der Mensch nur im Verlauf vieler Jahre erwirbt. Gänse, die ihr erstes Lebensjahr heil überstehen, werden rasch zu Persönlichkeiten.

Man braucht gar nicht die makabre Vorstellung zu hegen, was geistesgeschichtlich wohl aus uns geworden wäre, wenn übermenschliche Kannibalen seit Olims Zeiten fast alle Exemplare des Homo sapiens verspeist und nur einigen wenigen ein längeres Leben gegönnt hätten.

Hausgans

Obwohl die Gänse seit vielen, vielen Jahrhunderten mit den Menschen schlechte Erfahrungen gemacht haben, gewinnen sie rasch Vertrauen. Wer das Herz einer Gans erobert hat, kann sie streicheln, kann sie sogar beim Brüten von ihren Eiern wegtragen, damit sie frißt und trinkt. Oft schnattern die Gänse dann los, wobei sie bald völlig fassungslos scheinen, dass der Mensch ihre Beredsamkeit so gar nicht verstehen will. Immer öfter und immer lauter wiederholen sie, was sie zu sagen haben: nicht anders als der Urlauber im Ausland, der sich auf deutsch verständlich machen will.

Damit deute ich etwas an, was mir mit jedem Jahr des Umgangs mit meinen Gänsen klarer wird: Sie haben erstaunliche Ähnlichkeit mit uns und zeigen Charaktereigenschaften, die man - vorschnell - als "menschlich" aufwerten könnte. Unsere Gänsestamm-Mutter, eine Toulouser graue Gans, lebte mit Mann und zwei Kindern zusammen, als im vorigen Herbst ein (vermutlich tollwütiger) Fuchs in unserer Abwesenheit auftauchte und alle ihre Angehörigen grausam hinmetzelte. Wie sie selbst entkam, weiß ich nicht. Sie überlebte jedenfalls. Aber noch Wochen und Monate hindurch wanderte sie suchend und rufend durch ihre Gefilde: wo waren ihre Angehörigen? Wurden sie nicht wieder lebendig? Erst als sie in diesem Jahr sieben Gänseküken, die wir ihr untergeschoben hatten, aufziehen konnte, vergaß sie über der neuen Aufgabe ihre Verzweiflung. Wir kamen uns erbärmlich vor, als wir die sieben doch eines Tages ihrem Gänseschicksal zuführen mußten.

In der Tat: Abermals faßte die Ziehmutter nicht, dass ihre Lieben, mit denen sie viele Monate über die Wiesen gezogen war, nun wieder spurlos verschwunden waren, so viel und so klagend sie auch rief. Dabei hatten wir, um ihr Los zu erleichtern, zwei neue Toulouser Gänse für sie besorgt, die nun mit ihr zu einer neuen Familie zusammenwachsen sollten. Aber es dauerte lange, bis sie ihre Stiefkinder vergessen und die beiden neuen Gefährten akzeptiert hatte.

Das Gegenstück erlebten wir vor zwei Jahren. Als wir eines Sommerabends unsere weißen Gänse am Stall erwarteten, fehlte der stattliche Ganter. Die Gänse selbst zeigten keinerlei Verwunderung oder Unruhe. Im hohen Gras versuchten wir, die Spuren der Gänseschar zu verfolgen. Da war sie in ein Waldstück hineingelaufen. Hier lag er, der Ganter. Tot. Ohne jedes Zeichen einer Gewalteinwirkung. Was immer ihm passiert sein mochte - vielleicht Herzschlag? -, er war gestorben. Die Sippe hatte sein Ende zur Kenntnis genommen und es akzeptiert ganz anders als das ruchlose Schlachten durch Menschenhand. Wie von selbst übernahm an seiner Stelle Rosalie, die älteste der Gänse, das Kommando.

Vögel