Rosarot mit rostroten Haarschöpfen

Was für ein Bild! Es war wie Fernsehen in einem dunklen Zimmer: Nur die Farben auf der Fotomattscheibe leuchteten und ließen mich an der Szene draußen im Schilf teilhaben.

Zwischen den hohen Phragmites-Stengeln (Phragmites communis = Gemeines Schilf) war ein suppentellerbreites, sich nach unten vertiefendes Nest eingehängt, aus Material gebaut, wie es in der nahen Umgebung zu finden war: Schilfstengel in der Hauptsache, etwas Wasserminze und Teile von Solanum (Nachtschatten). Auf dieser von den Schlagschatten der Schilfstengel dunkel gestreiften Bühne saßen drei Jungdarsteller aus der Familie Zwergdommel - drei kleine rosahäutige Bürschchen mit rostroten Haarschöpfen, aber schon himmelblauen Federkielen. Sie konnten demnach rund eine Woche alt sein. Sie wisperten leise vor sich hin (ich habe nachgelesen, dass sie "weichfauchend chet-chet-chet oder chiätt-chiätt" sagen) und versuchten, aus der großen Nestunterlage einige Bröcklein Nahrung herauszustochern. Mitunter kniffen sie missgelaunt die Geschwister, zogen sie am Kopf und freuten sich am Protestgeschrei.

Zwergdommel

Der Altvogel (beide Eltern kommen fütternd ans Nest) war noch nicht wieder erschienen. So konnte ich den Versuch wagen, die jungen Zwergdommeln zu einem Verhalten zu veranlassen, das diese Vögel berühmt gemacht hat. Ich zog die Fotokanone ein und steckte statt ihrer einfach meine Hand zum Zeltschlitz hinaus. Die Bürschchen mit den roten Haarschöpfen sahen mir interessiert, aber nicht beeindruckt zu. Doch als ich dann mit der Hand zu winken begann, passierte es. Die jungen Dommeln, die faul auf den Bäuchen im Nest gelegen hatten, setzten sich auf und wuchsen zusehends mit immer länger und dünner werdendem Hals in die Höhe. Sie verwandelten sich in schwankende Schilfstengel, die Mühe hatten, die dicken Köpfe zu tragen. Minutenlang behielten sie diese für sie noch recht anstrengende Haltung bei und bewiesen damit, dass die berühmte "Pfahlstellung" den Vögeln angeboren und eine echte Instinkthandlung ist. Erst nach geraumer Zeit, als ich meine Annäherungsversuche schon längst eingestellt hatte, sanken die langen Hälse der Dommelkinder zitternd wieder zurück und signalisierten allgemeine Entwarnung.

Im Sucherbild meiner Kamera erschienen nun im Zeitlupentempo ein langer Schnabel und zwei krallenbewehrte Füße. Der Altvogel (Männchen und Weibchen unterscheiden sich durch die verschiedene Intensität der Färbung) kam unendlich langsam wie ein Chamäleon aus dem Senkrechtgewirr der Schilfstengel heraus und wollte gerade seinen Schnabel absenken, als er das Objektiv der Kamera erblickte und sofort zur Salzsäule erstarrte. Nun zeigte mir eine erwachsene Zwergdommel. was es mit der Pfahlstellung auf sich hat: der Hals wuchs empor, die Federn wurden eng angelegt, am Schluss der lange Schnabel zum Himmel erhoben. Von vorn (immer dreht die Dommel Gesicht und Leib dem Störenfried zu) sah es aus. als stehe der Vogel senkrecht wie ein Pfahl: von der Seite sieht man aber, dass sich die Dommel leicht schräg in die Höhe erhebt. Das Frappierendste sind die beiden bernsteingelben Augen, die jetzt zu beiden Seiten des Schnabelgrundes erscheinen und sich unverwandt auf die Quelle der Störung richten.

Eine geschlagene Dreiviertelstunde, so wird berichtet, kann es die Zwergdommel (wie übrigens auch die große Dommel Botaurus stellaris) in dieser Pfahlstellung aushalten, und sie blickt während dieser Zeit den Beobachter unverwandt an. bevor sie sich - wieder im Zeitlupentempo - zurückzieht. Nun, diese Zwergdommelmutter trieb es nicht so lange, weil sie das Fotozelt längst gewohnt war. Sie zog sich nach wenigen Minuten wieder in den Schilfwald zurück. Zwar ohne Verbeugung, aber doch in jener Stellung, wie man sich bei Hofe von den Hoch- und Merkwürden zu entfernen pflegt: die Brust nach vorn, aber im Rückwärtsgang.