Den Bart auf dem Rücken

Huftiere

Sie klettern wie Artisten und überwintern unter den unwirtlichsten Umständen: Gemsen brauchen die Lebensgewohnheiten der Eiszeit.

Gemse

Es ist noch stockdunkel, als wir die Hochalm verlassen und weiter aufsteigen. Im Rucksack sind alle Utensilien verstaut. Sepp beleuchtet mit einer kleinen Taschenlampe den steinigen Weg. Der Österreicher, ein erfahrener Berufsjäger, trägt die schwerste Last auf dem Rücken: ein halbes Dutzend kindskopfgroße Steine. Es sind Salzlecken - wichtige Mineralstoffe für die Gemsen.

Wir sind auf dem steilen Aufstieg zum "Gamsburg", einer fast überhängenden Wand im Großglocknergebiet. Hier, in der rauhen Bergwelt, die von keinem Skizirkus gestört wird, ist "der Gams" zu Hause.

In seiner langen Entwicklungsgeschichte war dieses Tier nicht immer so eng mit dem Hochgebirge verbunden wie heute. In der Eiszeit - vor Zehntausenden von Jahren, als die Alpen bis weit ins Vorland hinein mit Gletschern bedeckt und von Norden her ein zweiter gewaltiger Eisstrom aus Skandinavien bis nach Norddeutschland vorgedrungen war - blieb als Lebensraum für die Tiere nur noch ein schmales Gebiet. Dort waren Klima und Vegetation ähnlich rauh und kahl wie heute in unseren Alpenregionen oberhalb der Baumgrenze. Nur widerstandsfähiges, genügsames Wild konnte sich unter solch harten Bedingungen behaupten.

Dort, in den flachen und hügeligen Kältesteppen, lebten die Vorfahren unserer Gams; gemeinsam mit dem Rentier, dem Schneehasen, Schneehuhn und anderen Tierarten, die wir heute nur noch im hohen Norden oder im Hochgebirge finden oder die schon ausgestorben sind.

Als dann das Klima wieder milder wurde und die Eismassen aus Mitteleuropa zurückwichen, folgten etliche Tiere und Pflanzen, die in der eiszeitlichen Steppe zu Hause waren, den zurückweichenden Gletschern. Sie zogen in die Rückzugsgebiete der Erde, wo sich bis in unsere Tage eiszeitliche Verhältnisse erhalten haben. Die Rentiere wanderten in die Tundren und Fjelle des hohen Nordens; unser Gamswild fand Zuflucht in den Hochlagen der Gebirge von den Pyrenäen über die Alpen bis zu den Karpaten. Auch am Großglockner, an dem wir jetzt herumstiegen.