Krankheit und Seuchen

Das allerdings sind nicht die Gründe dafür, dass man heute angesichts der blühenden und sich stark vermehrenden großen Steinwildkolonien von einer nötigen Korrektur der Bestände spricht.

Überläßt man nämlich einen Schalenwildbestand dem unbeschränkten Wachstum, so stellen sich Krankheiten und Seuchen ein: Die Tiere stören sich beim Äsen und beunruhigen sich gegenseitig. Als überzählig festgestellte Steinböcke müssen durch Wildhüter und Jagdaufseher erlegt werden. Auch gibt es Spezialbewilligungen für manche Leute, die sich den Schuß auf einen Steinbock dreistellige Summen kosten lassen. Was wiederum der Naturschutzkasse gut tut.

Zum Schluß der versprochene Reisetip, der Sie mit Sicherheit an ein Steinbockrudel bringt. Ich möchte Sie in die Viertausender-Bergwelt des Gran-Paradiso-Massivs führen, in die Heimat aller Steinböcke der mitteleuropäischen Alpen. Man fährt durch den Tunnel des Sankt Bernhard hinunter ins Aostatal und von dort wieder hinauf zu dem Ort Cogne, einer freundlichen italienischen Siedlung am Ausgang des prächtigen Alpentales Valnontey, dessen Abschluß und Hintergrund die weißschimmernde Eiswelt der Paradisogruppe mit dem Gipfel des San Pietro bildet. Es gibt Hotels in Cogne, die sich als Basislager für die Exkursion gut eignen, doch finden sich auch Campingmöglichkeiten weiter hinten im Tal, die besonders außerhalb der Sommerferien zu empfehlen sind.

Der Ausflug, der von jedem einigermaßen gesunden Menschen in Bergwanderausrüstung zu bewältigen ist, führt über einen Serpentinenweg und Saumpfad hinauf zum Berg Lauson, auf dem nach einigen Stunden Fußmarsch das Bergsteigerhaus "Vittorio Sella" wartet und (außer Erbssuppe mit Würstchen oder sogar einem Kotelett mit Rotwein) einen Schlafsaal mit warmen Decken bietet. Man trifft dort Bergsteiger, Tierfreunde, Naturfotografen, Filmer und wandernde Studienrätinnen. Ich werde nie vergessen, wie eines Abends eine weißhaarige Engländerin von über siebzig Jahren in Blue jeans (und Sandalen!) oben ankam und freundlich auf Englisch-italienisch fragte: "Where, please, are here the stambecchi?" Wobei man wissen muß, dass der Steinbock auf italienisch "Stambecco" heißt.

Nach der Übernachtung im "Vittorio Sella" (2584 in) wandern Sie am nächsten Morgen über edelweißübersäte Almwiesen der Felsregion entgegen, in der mit den wärmenden Sonnenstrahlen des Morgens die Steinbockrudel erscheinen. Wenn man sich bedächtig und ruhig verhält, kommt man an die vertrauten Tiere bis auf fünfzig Meter heran. Stehen Sie nicht aufrecht! Setzen Sie sich auf den Boden und rutschen Sie langsam auf die Tiere zu! In Begleitung eines Wildwartes (er wohnt in einem kleinen Haus unterhalb des Bergsteigerrefugiums) konnte ich mit der Kamera auf den Knien bis auf zwanzig Meter an die völlig vertraute Steinbockkolonie heranrutschen. Das ist schon fast zu nah, um mit dem Teleobjektiv noch mehrere Tiere gleichzeitig auf den Film zu bringen.

Wenn Sie dann nach dieser Exkursion wieder zum Valnontey abgestiegen sind und Ihr Hotel in Cogne erreicht haben, darf ich Sie noch auf ein aus dem Mittelalter bekanntes Wundermittel gegen Muskelkater aufmerksam machen: Streichen Sie mit den Fingerspitzen sanft über das Steinbockgehörn an der Wand in der Hotelhalle, murmeln Sie dazu irgend etwas Gutes! Wenn Sie fest daran glauben, verschwindet der Muskelkater.

Aber Sie glauben's ja doch nicht.

Steinböcke im norditalienischen Nationalpark Gran Paradiso
Steinböcke im norditalienischen Nationalpark Gran Paradiso
Huftiere