Dionysos, Pan und Mephisto

Dass in Griechenland die Ziege auch eine bedeutende praktische Rolle spielt, lässt sich denken. Es ist aber kaum verwunderlich, dass sie bei uns in einem regenreicheren Klima weitaus nicht die Bedeutung des Schafes erreicht, das durch sein besseres Fleisch und die wertvolle Wolle Ziegenmilch und Ziegenkäse bei weitem aufwiegt.

Ziegen
Huftiere

So wurde die Ziege weithin die Kuh des armen Mannes, doch wird auch von Großherden in den Händen von Grundbesitzern berichtet. Auch Penelope, die Frau des göttergleichen Odysseus, besitzt eine Ziegenherde, von der sie ihre unliebsamen Freier ernährt. Wie gering aber der Wert der Ziege angesehen wurde, geht daraus hervor, dass Ziegendiebstahl erst bei einer Menge von zehn Ziegen an bestraft wurde.

Wie bei den Juden des Alten Testaments diente auch den Griechen das Ziegenfell vielfältigen Zwecken: als Kleidungsstück der Armen, als Sitzunterlage und als Behälter für Flüssigkeiten. Große Bedeutung besitzt die Ziege in der Medizin: Epilepsie und Augenkrankheiten sind die Hauptanwendungsgebiete. Außerdem wird das gemahlene Ziegenhorn bei abklingender Migräne empfohlen, die Asche der Ziegenblase gegen Bettnässen und verbrannte Ziegenhufe gegen Haarausfall. Man sieht, die Medizin ist immer eine flexible, wenn nicht sogar ratlose Wissenschaft angesichts der gleichbleibenden menschlichen Leiden und Beschwerden.

Die Ziege ist dem Menschen im Leben wohlgesonnen. Das bezeugen die überlieferten Geschichten, in denen Ziegen vorkommen. So wird eine Gruppe von Trojaheimkehrern auf einer Mittelmeerinsel durch eine Herde von Wildziegen vor dem Hungertod gerettet. Der Göttervater Zeus wurde von der Ziege Amalthea ernährt, als sein Vater Kronos ihn als Kleinkind aus dem Hause gestoßen hatte. Die selbstlose Ziege tat noch ein übriges, brach eines ihrer Hörner ab, füllte es mit Blumen und Früchten und reichte es Zeus dar, der Horn und Ziege zum Dank unter die Sterne versetzte. (Noch heute trägt der hellste Stern im Sternbild des Fuhrmann, dessen Name den der Ziege mittlerweile ersetzt hat, den Namen Capeila, was keineswegs Kapelle heißt, sondern Ziege.) Das Füllhorn als Quelle unerschöpflichen Reichtums hat hier seinen Ursprung.

Auf kretischen Münzen wird Zeus dargestellt, wie er am Euter der Ziege saugt, ähnlich wie Romulus und Remus, die von einer Wölfin ernährt wurden. Aegisthos, der in Blutschande gezeugt worden war, wird von seiner Mutter ausgesetzt, aber von einer Ziegenherde am Leben erhalten - sehr zu seinem späteren Nachteil und dem seiner Umwelt; denn er lässt sich, wie man aus der Odyssee weiß, mit der Frau des im Krieg abwesenden  Agamemnon ein, tötet den Spätheimkehrer, worauf ihm durch Orestes, den Sohn des Ermordeten, dasselbe Schicksal widerfährt. Vorherrschend ist jedoch die zentrale Feststellung, dass der Ziegenbock wegen seiner Zeugungskraft Verehrung verdient. Hirtengott Pan, uns von der Pansflöte her bekannt, ist der Bocksdämon schlechthin. Er wird als Mischwesen zwischen Mensch und Ziegenbock dargestellt, meist mit Hörnern und Bocksfüßen, oft auch mit kurzem Schwanz. Das Christentum hat diese Attribute eines heidnischen Gottes umfunktioniert und zum körperlichen Bestand des Teufels gemacht. Als Mephisto mit Hörnern, Bocksfüßen und Ziegenschwanz tritt er uns in Goethes "Faust" entgegen. Unter den Gottheiten, die den Ziegenbock als Kennzeichen der Fruchtbarkeit mit sich führen, befindet sich auch Dionysos, dem Ziegenböcke zum Opfer gebracht werden. Dass das Wort "Tragödie" eigentlich "Bocksgesang" heißt, wird von der Forschung allgemein angenommen. Die Hirten im Bocksfell, wohl auch mit Bockshörnern, wollten sich durch Bockstänze die Kraft des zeugungsstarken Tierdämons aneignen.

Damara-Ziege
Damara-Ziege

Die negative Bewertung der Ziege, oder vielmehr die Wendung ihrer positiven Eigenschaften ins Negative, ist wie so oft die Erfindung der Römer. Den Ziegenbock als Schimpfwort führen erst die Römer im Mund; man beschimpft damit einen Menschen als Bauern. All dies dringt erst später nach Griechenland in das Stammland der europäischen Ziegenhaltung ein. (Sprichwörtlich ist bis heute auch bei uns der Gestank des Ziegenbocks geblieben, der noch stundenlang die Dorfgassen verpestete.) In der Fabel bekommt man von der Ziege kein einheitliches Bild: Dem Wolf ist sie an Schläue weit überlegen, mit dem Fuchs kann sie dagegen nicht konkurrieren. Manchmal erscheint sie sogar als ausgesprochen dumm.