Wer den größten Hunger hat, fängt an

Bei einer am Kadaver versammelten Geiergesellschaft hat man zunächst den Eindruck, als handle es sich bei den häufigen Streitereien und Prügeleien lediglich um ein unkoordiniertes Kämpfen um das Futter.

Geier

Das stimmt jedoch nicht. Bei längerer, eingehender Beobachtung wird man nämlich feststellen, dass gewisse Gesetzmäßigkeiten und Riten gelten. Dies führte zu der Annahme, dass es auch bei Geiern am Aas eine festgesetzte Rangfolge gebe, wie sie beispielsweise von Hühnern bekannt ist. Eine solche "Hackordnung", bei der stets einzelne Individuen dominieren, gibt es in der Freßhierarchie der Geier aber nicht. Zwischenartlich wird die Rangfolge durch Körpergröße und Intensität bestimmter Ausdrucksbewegungen oder aggressiver Handlungen bestimmt, wobei letztere vom Grad des Hungers oder Freßtriebs abhängen dürften. So werden beispielsweise die großen Ohrengeier nur dann von den kleineren Weißrückengeiern (Gyps africanus) als dominierend anerkannt, wenn sie sich mit bestimmten Ausdrucksbewegungen dem Kadaver nähern. Ist jedoch der Größenunterschied so beträchtlich wie zwischen Schmutzgeier (Neophron percnopterus) oder Kappengeier (Necrosyrtes monachus) und anderen, bedeutend größeren Arten, so entscheidet allein die Körpergröße über die Vorherrschaft am Fraßplatz.

Komplizierter wird der Fall bei der innerartlichen Rangfolge. Hier spielt offensichtlich der Grad des Hungers und der Freßgier die entscheidende Rolle. Um dies nachzuweisen, habe ich am Aas versammelte Gänsegeier mit einer Preßluftspritze farbig markiert, so dass einzelne Vögel später wiederzuerkennen waren. Da wir an der gleichen Stelle nacheinander mehrere Kadaver auslegten, konnten wir feststellen, dass durchaus nicht immer die gleiche Rangfolge zu beobachten war. Auch ließ sich ganz deutlich beobachten, dass die Aggressionsbereitschaft mit zunehmender Sättigung abnahm und ein im Augenblick noch dominierender Vogel kurz darauf von einem anderen abgedrängt wurde, der sich imponierend genähert hatte. So kann man bei einer fressenden Geiergesellschaft beobachten, dass die Vorherrschaft am Aas ständig wechselt. Auch fressen bei größeren Ansammlungen durchaus nicht alle Vögel gleichzeitig. Immer nur eine Gruppe beschäftigt sich mit dem Kadaver, während die anderen wartend herumstehen Von diesen stürzen sich dann hin und wieder einzelne mit ausgeprägten Drohgesten ins Getümmel, um einen Platz am Kadaver zu ergattern, indem sie einen anderen Artgenossen vertreiben. Treffen zwei etwa gleich hungrige Vögel zusammen, so kommt es zu Kämpfen, die aber meist nicht zu ernsteren Verletzungen führen. All diese Rangkämpfe sind von keckernden stöhnenden und fauchenden Lauten begleitet.

Vögel